Die Freude ist groß: Haar ist Fairtrade-Gemeinde mit einer Fairtrade-Schule, dem Ernst-Mach-Gymnasium.
Gestern Nische, heute mittendrin
Die Champions League für Haar! Neben Brüssel, London, Kopenhagen, Amsterdam, Oslo, Madrid, Rom, Dortmund und München, spielt die Gemeinde ab sofort ganz oben mit, meint Manfred Holz. Fußballverrückte müssen sich jetzt nicht die Augen reiben. Manfred Holz ist Fairtrade-Ehrenbotschafter und übergibt die Urkunden des Gütesiegels der Gemeinde Haar und dem Ernst-Mach-Gymnasium. Damit gehört Haar in Deutschland nun zu den 771 Städten und Gemeinden, die sich „Fairtrade“ nennen dürfen.
Vor vier Jahren nimmt die Initiative in Haar ihren Anfang, geht 2018 durch den Gemeinderat und „Schwuppdiwupp, zwei Jahre und eine Pandemie später bekommen wir das Label“, moderiert Matthias Riedel-Rüppel, Intendant des Kleinen Theaters in Haar. „Und noch ein Jahr später dürfen wir endlich die Urkunden entgegennehmen.“
Steter Tropfen höhlt den Stein
„Diesen Titel bekommt man nicht geschenkt, die Kriterien sind anspruchsvoll. Er gilt nur für zwei Jahre, danach prüfen wir erneut“, hält der Repräsentant der Organisation fest und betont: „Diese Auszeichnung ist aber nicht das Ziel, sondern Anfang und Auftrag für weitere Aktivitäten, nach dem Motto Visionen ohne Aktionen bleiben Illusionen.“ Rund 30 Organisationen, darunter „Brot für die Welt“, „Misereor“ oder die „Welthungerhilfe“, gründen vor knapp 30 Jahren das einheitliche Siegel und setzen damit verbindliche Standards des fairen Handels, angefangen vom gerechten und stabilen Preis für Produkte bis hin zum Klimaschutz. Produzenten von Lebensmitteln oder Textilien in Asien, Afrika und Lateinamerika soll es ermöglichen, ihre Lebenssituation selbstbestimmt und unabhängig von ausbeutenden Großkonzernen spürbar zu verbessern. „Es brauchte Zeit, dass Konsumenten das Gütesiegel nicht als gelegentliches Beruhigungsmittel für das eigene Gewissen verstanden“, sagt Holz und bezieht sich auf die Umwelt- und Sozialenzyklika Laudato si von Papst Franziskus: „Solidarität muss wieder ein moderner Begriff sein, wir brauchen keine Globalisierung der Gleichgültigkeit.“ Fairer Handel lebe vom Handeln. Als eine der reichsten Industrienationen stehe Deutschland in der Pflicht, einen konkreten Beitrag gegen die Armut zu leisten. „Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer zahlreicher“, stellt Holz fest und zitiert einen gelesenen Satz aus sozialen Medien: „Wenn auf der Welt so viel geteilt würde wie in den sozialen Medien, gebe es keine Armut.“
Warnung vor Etikettenschwindel
Sogar in der schwierigen Zeit sei es der Steuerungsgruppe um Michael von Ferrari, mit Primavera Centonza und Eckhard Maurus, gelungen, die Vorgaben „durchzuziehen und das Vorhaben mit Leben zu füllen“, freut sich Bürgermeister Andreas Bukowski sichtlich vor den Gästen, darunter die stellvertretende Landrätin Annette Ganzmüller-Maluche und die ehemalige Bürgermeisterin Gabriele Müller, „die das Ganze, was wir heute feiern, angeschoben hat“. Trotzdem kritisiert der Rathauschef das Vorgehen verschiedener Interessensgruppen, die schnell Siegel, Zertifizierungen oder Auszeichnungen für Marketingzwecke missbrauchen: „Das fällt gerne auf fruchtbaren Boden. Man hat ein gutes Gewissen, weil man fair konsumiert, möglichst umweltbewusst.“ Das beste Beispiel sei der Begriff „vegan“. „Vegan ist ja in aller Munde, nur viele vergessen, dass es dem Tierwohl geschuldet ist.“ Eine Anekdote verdeutliche das: „Bei einer Bekannten zum Essen fragte jemand, ob das vegane Gericht auch vegetarisch sei.“ Für Bukowski ist die Fairtrade-Auszeichnung der Startpunkt weiterzumachen: „Es ist mir ein persönliches Anliegen, Bewusstsein zu schaffen. Jeder sollte sich, bevor er einkauft, drei kurze Fragen stellt: Wo kommt mein Produkt her, was steckt drin und unter welchen Bedingungen ist es hergestellt worden?“
Am Image arbeiten
Auch Gabriele Langner, Schulleiterin des mit dem „Fairtrade“-Siegel ausgezeichneten Ernst-Mach-Gymnasiums, verweist vor allem auf Engagement und nachhaltiges Tun. Gerade in einem Schuljahr 2021/2022, in dem es vor allem darum gehe, pandemiebedingte Wissensdefizite aufzuholen, seien Fairtrade-Bemühungen eine notwendige Ergänzung: „Eine Schule im 21. Jahrhundert lebt und arbeitet nicht in einem Elfenbeinturm, sondern hat eine ganz besondere Aufgabe und Chance, jungen Menschen auf die Herausforderungen der Zeit vorzubereiten und mit ihnen gemeinsam Lösungen zu suchen und zu finden“, stellt Langner fest. Die Gesellschaft brauche engagierte Schüler, Elternschaft und Lehrer, die den Gedanken Fairtrade zum Leben erwecken und aus der Ecke „elitär und teuer“ holen. „Nachhaltig zu handeln ist eine gute Absicht, doch im Alltag scheitern wir alle noch allzu oft. Die Lücke zu schließen, zwischen Einstellung und Tun, ist unsere Aufgabe“, unterstreicht Gabriele Langner.
Handeln verändert Machtverhältnisse
Laut Umfragen kennen etwa 90 Prozent das „weltweit bekannteste Sozialsiegel Fairtrade“, so Holz. Davon halten es in Deutschland 93 Prozent für vertrauenswürdig und bewerten die Produkte als gleich gut oder besser als konventionelle. Kaffeebohnen, eines der wichtigsten Fairtrade-Produkte, halten circa fünf Prozent des Marktanteils: „Da könnten wir besser sein. Immer noch besitzen viele Kaffeetrinker teure Kaffeemaschinen, trinken aber billigen Kaffee“, meint Holzer und ruft auf: „Bio, fair, regional, saisonal. Sorgen wir dafür, dass diejenigen, die uns täglich den Tisch decken, auch selbst satt werden.“ Das gelte genauso für einheimische Landwirte, Bäcker, Fischer und Metzger: „Nur wer etwas macht, hat die Macht, denn die Moral endet nicht am Warenregal. Kaufen ist nicht nur ein wirtschaftlicher Akt, sondern immer auch eine ethische Haltung. Wir müssen einfacher leben, damit alle einfach überleben.“
Ein blumiges Dankeschön für den Einsatz im Eine-Welt-Laden
Für Sie berichtete Manuela Praxl.